Der Mann muss weg
Wie sollen wir die Feiertage nur überstehen? Der Alltag ist schon schwer genug, aber er birgt Momente, in denen wir fast vergessen können, dass wir nur noch zu dritt sind. Seit einem Monat zerbreche ich mir den Kopf, was ich mit den Kleinen anstellen kann, nur um das Weihnachtsfest nicht Zuhause verbringen zu müssen.Ich bin kein Ski- fahrer, sonst wäre es ganz einfach. Wir würden nach Österreich in die Berge fahren und uns im Schnee tummeln. Dafür brauchten wir aber auch die passenden Sachen zum Anziehen. Die zu besorgen, fühle ich mich zurzeit völlig überfordert. Hier in Leipzig hat es gefühlt schon seit Jahren nicht mehr geschneit. Theresa, die Kleine, hat mit ihren drei Jahren noch nie Schnee gesehen. Wir besitzen Regensachen, aber die sind für Schnee und Berge unge- eignet. Dann hab ich noch an einen Ausflug nach Tropic Island gedacht. Da müssen wir nicht so weit fahren und jeder benötigt nur eine Badehose. Wo kann man die Weihnachtsgefühle besser ausblenden, als an einem Strand un- ter Palmen, die können dann auch alle künstlich sein. So war jedenfalls meine Rechnung. Die Kinder überstimmten mich. Sie wollten bei Mami bleiben. Ich hab erst gar nicht versucht, gegen dieses Argument anzugehen.
Also machten wir uns auf und kauften einen Weihnachtsbaum. Wo befand sich eigentlich unsere Weihnachtsdeko- ration? Luise hatte sie liebevoll in Kisten verpackt. Jede mit der ihr eigenen Handschrift markiert. Bei ihr sahen die Buchstaben immer so aus, als wollten sie sich im nächsten Moment schlafen legen. Ich stand im Keller von meinen Erinnerungen gerührt und die Tränen liefen. Die Kinder sahen es ja nicht, da konnte auch ich mich einmal gehen lassen. Sie fehlt mir unaussprechlich. Wie sollte ich die unendlich langen Feiertage nur überstehen.
Die Kinder sahen die ganze Sache viel pragmatischer. Piet fragte mich schon vor einer Woche, ob ich denn ein Geschenk für Mama hätte. Er wird im Januar fünf und wollte mich wohl vor der peinlichen Situation bewahren, mit leeren Händen dazustehen.
So ziehen wir heute Nachmittag die Regensachen über und machen uns auf den Weg zum Friedhof. Ich kaufte drei von den kleinen roten Grablichtern, deren elektrische Flammen von einer Batterie angetriebenen werden, denen kann der Wind nichts anhaben. Theresa und Piet haben Bilder gemalt. Seit dem Sommer besitzen wir ein Laminiergerät, damit die kleinen Grüße nicht vom Regen ramponiert werden. Von Luises Lieblingsstelle am See hat jeder einen Stein mitgebracht, so kann der Wind die Blätter nicht wegtragen. Mein Mitbringsel ist ein Selfi von uns Dreien. Im Drogeriemarkt konnte ich es vergrößern und ausdrucken lassen. Dann stehen wir noch ein wenig am Grab, halten uns an den Händen und weinen, jeder still für sich. Das ist zwar gegen die Abmachung, wir versprachen Luise zum Abschied, dass wir nicht weinen würden, aber heute am Heiligen Abend besteht eine Ausnahme. Bis Piet sich seine Nase am Ärmel abwischt und leise Tschüss sagt. Theresa und ich murmeln auch unser Tschüss. Es hat wirklich etwas Feierliches, wie wir den feuchten Weg zwischen den vielen Gräbern entlang gehen. Viele Lichter flackern und scheinen auf den Abend und die Dunkelheit zu warten.
„Wir müssen uns beeilen, stellt euch vor der Weihnachtsmann kommt und wir sind nicht zu Hause.“, versuche ich unser Schrittempo zu erhöhen. Theresa will nicht mehr laufen. Ich nehme sie auf den Arm. Piet erzählt von Dinosauriern. Sein Lieblingsthema in letzter Zeit. Er hatte die Begeisterung eines Tages aus dem Kindergarten mitgebracht und freut sich, wenn er seine Schwester als T-Rex erschrecken kann. So ziehen wir durch die fast menschenleeren Straßen. Mit jedem Schritt nimmt meine Furcht zu, wieder die leere Wohnung betreten zu müs- sen. Der warme Lichtschein aus den Fenstern der Häuser, an denen wir vorbei kommen, verstärkt dieses Gefühl. Ich rede mir ein, dass auch hinter diesen Mauern nicht nur eitle Seligkeit herrscht. Auch am Heiligen Abend ist die Welt keine bessere. Sie wird nur romantisch mit Kerzenschein aufgehübscht, aber der flackert auch schon auf dem Friedhof.
Wir werden uns auch einen schönen Abend machen. Das schulde ich den Kindern für ihre Tapferkeit, die sie je- den Tag zeigen. Ein Weihnachtsmann ist versprochen, also wird ein Weihnachtsmann bei uns vorbei schauen. Das Heikle daran ist nur, die Kleinen müssen noch etwas auf die Bescherung warten. Der Einfall mit dem Bartmann kam mir etwas spät. Genau gesagt gestern. Es ist eben alles ein wenig viel in letzter Zeit. Die von der Jobvermitt- lung schüttelten nur mit dem Kopf. Alle Buchungen seien abgeschlossen. Auch ein Pseudoweihnachtsmann hat einmal Feierabend. Meine herzzerreißende Geschichte von den zwei kleinen Kindern, die ohne Mutter aufwach- sen müssen, konnte die Dame hinter dem Schreibtisch nicht erweichen. Resigniert gab ich auf und schlurfte den Gang von diesem blöden kalten Bürogebäude entlang. Ich wollte hier nur raus. Klar die Schuld lag allein bei mir.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das gilt im Großen, wie im Kleinen. Aber hätte es nicht einmal, nur einmal, eine Ausnahme geben können? Da legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um und vor mir stand der Weihnachtsmann. Der besaß wirklich einen prächtigen Vollbart, aber den tragen heute viele junge Männer. Einen so jungen Eindruck machte der Mann vor mir nun auch wieder nicht. Schwierig zu schätzen, wie alt er war. Es fehlten der rote Mantel und die Filzstiefel. Da stand der Weihnachtsmann in Zivil, mit Norweger- pullover, Kordhose und Doc Martens. In mir keimte Hoffnung. Es geschehen eben noch Wunder. Dieser Mann hatte wirklich ein Einsehen in unsere Situation und ein zudem großes Herz. Wenn der Weihnachtsmann keine Er- findung von einem amerikanischen Getränkekonzern ist, wenn es in diesem Universum eine Planstelle für diesen Posten gibt, dann sollte dieser Mann diese besetzen. Meinetwegen auf Lebenszeit. Er hat es sich verdient.
Zwanzig Uhr will er einen Hausbesuch bei uns machen. So waren seine Worte. Hört sich zwar nach einem Arzt-Pa-tienten-Verhältnis an, aber wenn er uns helfen kann, dann ist es mir Recht. Zwanzig Uhr, da bleiben uns noch neunzig Minuten. Hoffentlich hält Theresa so lange durch. Um Piet mache ich mir keine Sorgen. Er spielt mit seinen Dinofiguren. Es gibt gerade ein Gemetzel. Die Großen fressen die Kleinen. Mir fällt ein, wir müssen auch noch etwas essen. Bei uns gibt es Heiligabend immer Kartoffelsalat mit Bockwurst. Seit Luise nicht mehr kocht, hat die kulinarische Seite in unserem Haushalt gelitten. Die Kinder beschweren sich nicht. Sie würden sich auch gänzlich von Chips und Ketchup ernähren. Piet möchte seine Bockwurst lieber kalt. Da lohnt es nicht, für meine Wurst, Wasser warm zu machen. Theresa bekommt Rührei. Sie mag keine Wurst. Hoffentlich wird sie nicht zur Vegetarierin, dann haben wir in der Küche ein Problem. Ich reiße die Verpackung mit dem Kartoffelsalat aus dem Supermarkt auf und befördere den Inhalt in eine Schüssel. So sieht er fast wie selbstgemacht aus. Immerhin habe ich ihn selbst gekauft. Theresa möchte keinen Salat. Zum Glück schmeckt ihr wenigsten das Ei. Es ist auch egal, heute ist Heiliger Abend. Josef und Maria hatten bestimmt nicht einmal Kartoffelsalat mit Bockwurst. Da fällt mir ein, dass es die Kartoffel vor zweitausend Jahren in unseren Breiten und auch in Bethlehem noch nicht gab.
„Wann kommt denn der Weihnachtsmann?“, quengelt die Kleine. „Mir ist langweilig.“ Jetzt ist sie kurz vor dem Weinen, das kenne ich. Da sollte ich etwas unternehmen. Ich erzähle ihr, dass der liebe gute Mann von Familie zu Familie stampfen muss, um den Kindern ihre Geschenke zu bringen. Die größten Geschenke bekommen die Kinder, die schon gewaschen und im Schlafanzug sind, wenn er an der Tür klingelt. Piet schaut misstrauisch zu mir herüber. „Kommt er auch wirklich?“ Ich nicke, „Dinoehrenwort!“ Mein Großer lässt sich aber nicht so leicht überrumpeln. „Dinos können nicht sprechen, darum können sie auch kein Ehrenwort abgeben. Das sind die In- dianer, die so etwas machen“. „Was machen Indianer?“, stelle ich mich dumm. Na Ehrenwörter geben und dann machen sie so.“ Piet legt sich die flache Hand auf die Brust und lässt dann den Arm im Bogen durch den Raum gleiten. Ich habe einen schlauen Sohn.
Was ist aber, wenn der Kerl mit dem Bart mich nur veralbert hat? Es gibt keinen Vertrag, nur einen Handschlag und ein Blick in die Augen. Aber warum sollte er mich belügen? Das wäre doch krank. Wie ein Soziopath sah der Mann nicht aus. Er wird schon kommen.
Ich schaue zu meinem Sohn herüber und nicke. „Heute kommt der Weihnachtsmann, versprochen.“
Piet grinst. Ich bin mir nicht sicher, ob er noch die Geschichte glaubt oder nur kein Spielverderber sein will. Manchmal habe ich Angst, dass ich ihn überfordere und ihm ein Stück
seiner Kindheit raube. Aus dem Bad ruft Theresa ich soll ihr helfen. Sie will fertig sein, wenn die Geschenke verteilt werden.
Fünf Minuten vor Acht sitzen wir auf der Couch und warten. Am Weihnachtbaum brennen die Lichter, die Kin- der haben ihren Schlafanzug an und ich mein neues Hemd. Luise hatte es letzte Weihnachten im Internet bestellt. Einkaufen gehen konnte sie da schon nicht mehr, da fehlte ihr schon die Kraft. Aber sie wollte mir unbedingt auch etwas schenken. Ich rührte das Paket nicht an. Es lag die ganze Zeit im Schrank. Bis heute! Als ich es vorhin auspackte lag ein kleiner Zettel mit einem Herz darin. In dem Herz stand das Wort „Kuss“. Das war Luises Form der Zärtlichkeit. Ich musste mich sofort hinsetzen, sonst wäre ich zusammengeklappt. Theresa und Piet, in ihrer Aufgeregtheit, holten mich aus dem Tief sofort wieder raus.
Punkt acht klingelt es. Theresa stürzt als erste los. Kurz vor der Tür stoppt sie. Ihr ist wohl bewusst geworden, dass da draußen jemand Unbekanntes wartet. Auf dem Weihnachtsmarkt hat sie einen Mann mit rotem Kapu- zenmantel und Wattebart erlebt. Er roch ihr aber zu sehr nach Glühwein, so dass die Kleine lieber Abstand hielt.
„Piet“, ruft sie vom Flur her. Ihr großer Bruder grinst breit und macht sich auf den Weg, seiner Schwester beizu- stehen. Dann klingelt es noch einmal. Jetzt gehe ich an die Tür. Tatsache, da steht der Weihnachtsmann. In seiner Aufmachung komplett mit Stiefel, Handschuh, Mantel, Bart, Sack, alles da. Eigentlich sollte jetzt sein „Ho, Ho, Ho!“ kommen. „Tief vom Walde komm ich her...“ Aber was sagt dieser Typ: „Bin ich zu spät, habt ihr schon lange gewartet?“ Er verstellt auch nicht seine Stimme. Wie selbstverständlich fragt der Mann, ob er seine Stiefel ausziehen kann, die sind nämlich in einer geheizten Wohnung ganz schön warm. Piet rennt sofort los und holt aus unserem Schuhschrank die Gästepantoffeln, solche braun-beige-karierten Opa-Hausschuhe. Dann zieht der Weihnachtsmann seinen Mantel aus und nimmt sich einen Bügel von der Flurgarderobe. Da steht er nun, Norwe- gerpullover, Kordhose und unsere Hausschuh. Der Bart ist echt, den kann er nicht ablegen.
„So“, sagt er und mir geht durch den Kopf: „Wer So sagt, hat noch nichts getan“. Mein Gegenüber scheint Ge- danken lesen zu können. Er nimmt den Sack, den ich im Treppenaufgang für ihn platziert hatte und begibt sich mit einem „Na dann wollen wir mal“ in die Wohnstube. Theresa hat seine freie Hand ergriffen und scheint wie das Christkind neben ihm her zu schweben. Ich sehe meiner Tochter an, dass sie glücklich ist. Die Geschenke sind zweitrangig. Sie hat den Weihnachtsmann zu Besuch und weicht nicht von seiner Seite. Piet schaut da schon etwas skeptischer. Ihm scheint die Sache nicht ganz geheuer zu sein. Aber als er das große Buch der Dinosaurier in den Händen hält, ist das Eis gebrochen. Zuerst umarmt er mich, dann den Bartmann und dann wieder mich. Nun verschwindet er in der Ecke, hinter dem Baum und wird wohl bereuen, dass er noch nicht lesen kann. Die Bilder faszinieren ihn auch so.
Der Bärtige lässt sich in einen Sessel fallen und streckt die Beine von sich. „War wohl ein harter Tag?“, frage ich. Er nickt und reicht mir seine Hand herüber: „Übrigens, mein Name ist Claus, oder Santa. Du weißt schon, wegen dem Bart und so. Kannst also ruhig Santa zu mir sagen“. Hallo Santa!“, ich lächele. „Santa Claus, wie praktisch. Nomen est Omen! Als hättest du nie etwas anderes gemacht“. Santa lächelt zurück, dann deutet er auf seinen Magen. „Gab es bei euch schon Abendbrot?“ Ein Weihnachtsmann, der sich durchnassauert, das ist doch einmal etwas Neues. Mir kann es nur Recht sein. Ein Gesprächspartner im Jetzt ist besser, als das ewige Wühlen in der eigenen Vergangenheit. Ich stelle die Schüssel mit dem Kartoffelsalat und einen Teller mit Theresas Bockwurst vor ihn hin. Dann öffne ich uns zwei Bier. „Selbstgemachter Kartoffelsalat mit Bowu, das ist ja wie bei Muttern“. Santa strahlt und lässt es sich schmecken. „Den Salat hast du wirklich gut hinbekommen“, er hebt den Daumen. Ich lehne mich zurück und schmunzele in mich hinein. Dann stehe ich doch noch einmal auf und hole uns zwei Gläser. Es ist ja schließlich Weihnachten und wann sitzt man schon einmal mit Santa Claus an einem Tisch.
So wie man isst, so arbeitet man auch. Der Mann muss gut zupacken können und seine Aufgaben schnell erledi- gen. Als ich das dritte Flaschenpaar öffnen will, sehe ich, dass die Kinder eingeschlafen sind. Sonst gibt es immer Probleme, die beiden ins Bett zu bekommen. Heute hatte ich mich darauf eingestellt, ein ewiges Tänzchen zu er- leben. Doch Santas sonore Stimme, überhaupt seine Gegenwart, wirkten wie der Schlafsand des Sandmännchens. Luise konnte auch mit nur einer Strophe „Der Mond ist aufgegangen“ den größten Sturm besänftigen. Sang Santa das Lied eigentlich gerade? Ich bin mir nicht sicher. Aber so groß ist die Wohnung nicht, dass ich in der Küche nicht mitbekommen würde, was ein Zimmer weiter passiert. Woher sollte Santa wissen, welches Lied er singen muss, um die Plagegeister zur Ruhe zu bringen? Vielleicht hat Theresa ihm die Zauberformel verraten. Mir ist es Recht, die Feiertage sind noch lang genug. Die Kleine wacht nicht einmal auf, als ich sie ins Bett lege und Piet schiebt sich sein neues Buch unter das Kopfkissen. Sicherlich hofft er, dass er im Traum schon Lesen kann.
Bei meiner Rückkehr ins Wohnzimmer bemerke ich, dass kein Bartmann im Sessel sitzt. Verabschieden hätte er sich schon können, geht es mir durch den Kopf, doch da höre ich Besteckgeklapper aus der Küche.Wie selbstver- ständlich steht der Weihnachtsmann da, mit einem Geschirrtuch in der Hand und trocknet die Messer und Gabeln ab. Dann legt Santa sie an ihren Platz im Küchenschrank. Woher weiß der Mann in welcher Schublade unser Be- steck liegt? Das ist mir jetzt etwas unheimlich. Egal, es ist immer noch besser, als allein zu sein.
„Noch ein Bier oder lieber Rotwein?“ Santa hält kurz in seiner Tätigkeit inne, als müsse er sein inneres Ich erst befragen. Dieses scheint ihm, zum Rotwein geraten zu haben. Also sitzen wir wieder in unseren Sesseln, betrach- ten das satte Rot des Primitivo in unseren Gläsern im Gegenlicht der Weihnachtsbaumbeleuchtung und ich höre meinen Gast fragen: „Warum feierst du eigentlich das Fest mit den Kindern allein? Habt ihr keine Verwandtschaft? Gibt es keine Großeltern, die dir unter die Arme greifen könnten?“, Santa Claus schaut bei seinen Worten nicht
mich an, sondern scheint die Frage mehr den Wein in seinem Glas gestellt zu haben. Mir wird klar, dass man auch am Heiligen Abend bei einem Gespräch mit dem Weihnachtsmann nicht nur der Beschenkte sein kann. Ich muss auch etwas über mich preisgeben. So sind die Spielregeln nun einmal. Wer weiß, wozu es gut ist, denke ich mir. Auf der Couch beim Psychologen läuft das ja auch so ab. Jetzt hat der Bartmann schon meinen Kartoffelsalat gegessen und trinkt meinen Wein, da kann ich ihm auch noch eine Schauergeschichte aus meinem Leben kredenzen. Ich nippe an meinem Rotwein. Eigentlich wollte ich mir das Wühlen in der Vergangenheit ersparen. „Luise, meine Frau, meine verstorbene Frau und ich, wir sind Hinterbliebene. So haben wir uns immer bezeichnet. Bei uns hat das Schicksal die Fliegenklatsche geschwungen und besonders kräftig zugeschlagen. Das ist schon wieder zehn Jahre her. Zehn Jahre und dazwischen ist so viel passiert. Damals war ich sechzehn. Sommer, Schulferien, Urlaub- szeit. Ich wollte nicht mehr mit meinen Eltern über den Brenner in den Süden fahren. Das war mir zu doof und es gab sowieso ewig nur Streit. Aber die Alten hatten Schiss, mich allein in der Wohnung zu belassen. Sie glaubten wohl, ihre eigenen vier Wände bei ihrer Rückkehr nicht mehr wiederzuerkennen. Dabei stand mir der Sinn gar nicht nach Partys, ich wollte einfach meine Ruhe haben. Dafür gab es aber keine Genehmigung. Also Toskana im Schlepptau meiner Erzeuger, Hitze und alte Säulen.
Auf der Rückreise über die A8, ich hatte es mir auf der Rückbank bequem gemacht, sah ich zum ersten Mal Lu- ise. Sie hatte das gleiche Los ereilt, auch Rücktour aus dem Süden, auch mit den Eltern, auch mit dem Auto. Wir fuhren auf dem linken Fahrstreifen, Luise auf dem Mittleren. Beide Autos gleiche Geschwindigkeit. Mein Vater fuhr immer gern schnell. Ich grinse herüber, Luise grinst zurück. Der Beginn unserer Schicksalsgemeinschaft, denn hinter der nächsten Kurve hatte sich ein LKW quer gestellt und beide Fahrzeuge rasten ungebremst in die- sen Koloss hinein. Unsere beiden Eltern waren sofort tot, wir überlebten körperlich unbeschadet. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich aus dem Auto herausgekommen bin. Totaler Blackout! Wir rannten, wie zwei vom Jäger aufgescheuchte Rehe hinter der Leitplanke der Autobahn hin und her, hatten uns an den Händen ge- nommen, weil wir spürten, allein mit dieser Situation nicht fertig werden zu können. Es gibt zwei Möglichkeiten mit einem solchen Erlebnis umzugehen. Entweder will man die andere Person nie wiedersehen, weil sie einen immer an das Schreckliche erinnert oder man bildet eine Gemeinschaft und steht sich den Rest des Lebens zur Seite. Wir haben den letzteren Weg eingeschlagen. Hat aber auch nicht geklappt, denn heute sitze ich hier ohne meine Frau. In ihrem Sessel sitzt ein Pseudoweihnachtsmann und hört sich meine Geschichten an. Das Leben ist wie ein defektes Stellwerk, man weiß nie, wo der Zug wirklich hinfährt. Es gibt da noch die Variante mit der Pralinenschachtel und Tom Hanks, aber die wurde in Hollywood produziert. Typisch Amerika! Wer glaubt denn, dass das Leben nur aus süßen Teilen besteht, so unterschiedlich sie auch sein mögen? Die bitteren Happen kann man doch nicht einfach ignorieren.
In dieser Nacht habe ich unruhig geschlafen.Gegen Morgen wurden die Träume so real, dass ich beim Erwachen zu Luises Bett herüber taste, in der Hoffnung, die Realität könnte nur ein Albtraum gewesen sein und meine Frau würde mich aus ihren Kissen heraus anlächeln. Das Bett ist leer, aber aus der Küche höre ich das Klappern von Geschirr und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee steigt mir in die Nase. Ungläubig, Schritt für Schritt, taste ich mich über den Korridor zur Küche vor. Die helle Stimme meiner Kleinen ist zu vernehmen. Ihre Zunge stößt beim Sprechen an die Milchzähne, so dass sie Schwierigkeiten hat, das „S“ auszusprechen. Sie erzählt gerade voller Eifer von einem Einhorn, welches ihr in der Nacht begegnet ist. Ganz weiß ist es gewesen und das Horn hat ge- leuchtet. Ich muss schmunzeln, hatte ich ihr doch erzählt, dass die Mama ihr im Traum ein Einhorn schickt, damit sie nicht so allein ist. Als ich eintrete, starre ich auf einen breiten Rücken auf dem Rentiere in einem gestrickten Fries entlang galoppieren. Santa Claus, den hatte ich ja schon vollkommen vergessen. Was habe ich denn gedacht, wer hier das Frühstück macht. Er scheint sich, in unserer Küche wohl zu fühlen. Wo hat der geschlafen, frage ich mich? Das Bett neben mir war auf jeden Fall unbenutzt.
Der Tisch ist gedeckt. Ich traue meinen Augen nicht. Jeder in unserer Familie hat Tasse, Teller, Eierbecher und Eierlöffel seiner eigeneb Farbe. So war es jedenfalls als Luise noch lebte. Ich habe für solche Nebensächlichkeiten einfach keinen Nerv. Aber vielleicht ist es gar keine Nebensächlichkeit. Vielleicht sind es diese Kleinigkeiten, die das Leben rund machen. Mir kommen die Tränen. Santa hat mich erwischt. Woher konnte er das mit den Farben wissen? Theresaa war bei Luises Beerdigung gerade einmal zwei Jahre alt, da kann sie sich doch unmöglich noch an unser Frühstücksritual erinnern. Der Große scheint noch zu schlafen. Wer hat dem Weihnachtsmann meine Schwachstelle verraten? Überhaupt, warum ist er immer noch da? Natürlich freue ich mich über die kleinen Auf-
merksamkeiten, doch beschleicht mich eine Angst. Was ist, wenn ich wieder mit den Kindern allein bin und wel- ches ist der Preis für so viel Liebenswürdigkeit? Eine innere Stimme rät mir, nicht so viel zu grübeln, die Situation anzunehmen und den Augenblick zu genießen. Das Leben kann schön sein, wenn man den richtigen Momenten Raum lässt.
„Piet, Frühstück!“, rufe ich durch den Korridor zum Kinderzimmer hin und setze mich mit bester Laune an den Tisch. Santa ist gerade damit beschäftigt, kaltes Wasser über die gekochten Eier fließen zu lassen. Schnell springe ich wieder auf und schenke Kaffee ein. Die Kinder bekommen zur Feier des Tages Kakao, dazu Toast, Butter und Erdbeermarmelade. Es ist Weihnachten!
So vergehen die Tage. Santa kocht für uns, bastelt mit den Kindern und geht mit uns, um auch einmal an die frische Luft zu kommen, spazieren. Sein roter Mantel sorgt für Aufsehen. Die Leute sind der Auffassung, dass der Weihnachtsmann ein Verfallsdatum hat, das nach dem 24. Dezember abgelaufen ist. Sie selber tragen in der Vorweihnachtszeit in Scharen rote Zipfelmützen und blinkende Elchgeweihe auf dem Kopf. Das finden sie auch noch lustig. Aber wenn jemand seine Aufgabe ernst nimmt und nicht auf die Stechuhr schaut, dann begegnet man ihm mit Unverständnis. Santa Claus lässt sich von den irritierten Blicken in der Nachbarschaft nicht aus der Ruhe bringen. Wie sieht er eigentlich seine Situation? Unser Gast spricht nicht über sich. Er hört lieber zu. Ich traue mich auch nicht zu fragen. Für uns ist es ein verlängerter Heiligabend. Der Weihnachtsmann beschenkt uns mit dem Schönsten, was er geben kann, seiner Aufmerksamkeit. Doch wie lange wird der Zauber anhalten? Macht es am Sechsundzwanzigsten um Mitternacht auf einmal Peng, die Tür fällt ins Schloss und wir sind wieder allein. Ich weiß auch nicht, was die Kinder darüber denken, dass Santa Claus bei uns zu Gast ist. Für sie ist die Situation scheinbar die natürlichste von der Welt.
Am Siebenundzwanzigsten muss ich wieder ins Büro und die Kinder gehen in den Kindergarten. Schon an der Tür werden wir empfangen. Tante Simone ist unsere Lieblingskindergärtnerin. Ja, auch meine! Ich mag Simone, ihre Art mit den Kindern umzugehen,, die blonden Haare und ihre zierlicher, fast jungenhafter Figur. In ihren Bewegungen erkenne ich eine Ähnlichkeit mit Luise. Darum schau ich ihr auch so gern zu. Ich glaube Simone mag uns auch. Heute sind nur wenige Kinder zu betreuen. Die meisten Eltern behalten ihre Kinder bis ins neue Jahr zu Hause. Ich hatte Angst, dass uns die Decke auf den Kopf fällt und muss auch mit meinem Urlaub haushal- ten. So schnell wird mal eines der Kinder krank, dann muss ich zu Hause bleiben. Simone strahlt mich mit ihren grau-blauen Augen an, hat den Kindern ihre Mützen abgenommen und streicht ihnen zärtlich über das Haar. Dann signalisiert sie mir mit einem Lächeln, dass ich ruhig schon gehen kann, sie wird sich um Theresa und Piet kümmern. Gern würde ich noch einen Augenblick verweilen und zusehen, wie sie den Kleinen aus den Wintersa- chen hilft, aber ich möchte nicht aufdringlich wirken.
Wenn Theresa am Abend von ihrer Tante Imone erzählt, weil sie weiß, dass sie mit dem „S“ Schwierigkeiten hat, lässt sie es einfach weg, legt sich mir regelmäßig ein Ring um meine Brust. Ich würde sie gern einmal zum Essen einladen. Meine Angst aufdringlich zu wirken, hält mich zurück. Was weiß ich von dieser Frau? Vielleicht hat sie einen Freund. Verheiratet scheint sie nicht zu sein, sie trägt keinen Ring. Sicherlich ist es nur Mitleid mit den Kin- dern, dass sie veranlasst, so aufmerksam mit uns umzugehen. Was will eine junge Frau mit einem Mann der schon zwei Kinder hat?
Eigentlich habe ich keine Ruhe, mich auf meine Abrechnungen zu konzentrieren. Santa ist allein in der Wohnung. Ich wundere mich, welches blinde Vertrauen ich aufbringe. Was ist, wenn ich nachher unser Zuhause betrete und die Räume sind leer. So etwas kommt doch vor. Das könnte ja eine Masche sein, der neueste Trick des kriminellen Milieus. Sie schicken einen als Weihnachtsmann verkleideten Spion voraus, der schleicht sich in das Vertrauen der Gutgläubigen ein und öffnet im günstigen Moment Tür und Tor für seine Bande. Diese Gedanken bringen mich aus meinem Konzept. An Konzentration auf meine Zahlen ist nicht mehr zu denken. Ich packe meine Sachen. Die Kinder werden sich freuen, wenn sie einmal Mittagskinder sein dürfen und vor der Mittagsruhe abgeholt werden. Die wenigen Kinder sitzen mit Simone um einen runden Tisch und sind beim Essen. Es gibt Grießbrei mit Früch- ten. Da weiß ich, dass meine Beiden glücklich sind. Ich bleibe im Türrahmen stehen und schaue dem Treiben zu. Theresa hat mich erspäht und ist besonders zappelig. Piet konzentriert sich auf seine Mahlzeit. Er will als Erster aufgegessen haben, das Spiel kenne ich zu gut. Simone sitzt und hat mir den Rücken zugekehrt. Nach meinem
Empfinden hat sich ihr Nacken bei meinem Erscheinen versteift, als ob sie sich gegen meine Blicke wappnen wolle. Hier herumzustehen ist mir auf einmal unangenehm. Ich gehe in die Garderobe und suche die Sachen der Kinder zusammen. Plötzlich steht Simone hinter mir. Sie sieht mir einen Augenblick zu. Ich habe das Gefühl, irgend etwas liegt ihr auf der Zunge, also drehe ich mich um und blicke sie an. „Bei Ihnen wohnt jetzt der Weih- nachtsmann, haben die Kinder erzählt“. Das Gesagte soll lustig herüber kommen, doch ich spüre, dass da noch ein anderer Unterton mitschwingt. Meine Verunsicherung will ich mir nicht anmerken lassen und überspiele sie, mit einem, in einen kurzen Lacher eingebetteten „Ja“. Simone ist, mit dieser Antwort aber noch nicht zufrieden gestellt. „Ein Verwandter?“, bohrt sie nach. Ich merke, dass die Situation jetzt schwierig wird und schüttele nur mit dem Kopf. „Ein Freund?“, Ihre Stimme bekommt einen resignierenden Tonfall. Darauf zucke ich nur mit den Schultern und bin mir bewusst, dass jede Antwort nur missverständlich sein kann. Also bleibe ich wage: „So etwas Ähnliches“.
So eine blöde Situation, denke ich auf dem Nachhauseweg. Theresa trage ich auf dem Arm, damit es schneller geht. Ich habe kein gutes Gefühl. Was spielt sich hier eigentlich ab? Piet tappelt neben uns her. Er ist merkwürdig still. Doch dann platzt es aus ihm heraus: „Papa, wohnt Claus jetzt immer bei uns?“ Er hat zum ersten Mal von Claus gesprochen. Sonst hat er immer Santa oder Weihnachtsmann gesagt. Claus ist eben einfach nur Claus. Da brauche ich meinen Sohn, um das zu realisieren. Das nimmt der ganzen Situation mit einem Mal den Zauber, das Irrationale. Weihnachten ist vorbei und wir sind wieder im Alltag angekommen. Nun heißt es aussteigen aus der Märchenbahn. Doch mein Sohn ist noch nicht mit seinem Gedankengang fertig. „Stimmt es, dass Männer auch Männer lieb haben können?“, poltert es aus ihm heraus. Ich bleibe abrupt stehen. Was ist denn hier los? Mein Sohn ist jetzt vier, in dem Alter wusste ich nicht einmal, dass es zwei Geschlechter gibt. Nur jetzt nichts Falsches sagen! Theresa hat ihre Arme um meinen Hals geschlungen und lässt in ihrer putzigen Art verlauten:“ Ich hab Anta Clau auch lieb“.
Aber die Fragen meines Sohnes sind noch nicht beantwortet. Ich spüre, dass sie ihm wirklich auf der kleinen Seele liegen. Vielleicht rolle ich die ganze Sache am Besten von hinten auf. Erst einmal in Ruhe weitergehen. Der Junge hat mir einfache Fragen gestellt, da sollte es nicht schwer sein, einfache Antworten zu finden. Theresa wechselt auf die andere Seite, so kann ich Piet besser sehen. Ich lege ihm meine rechte Hand auf seinen Nacken, um eine direkte Verbindung zwischen uns herzustellen. Wir sind jetzt so zu sagen, mit einander verkabelt. „Ja, Männer können auch Männer lieb haben. Wenn sie wollen, dann heiraten sie auch“. Mein Sohn trägt schwer an dieser Antwort. Ich spüre, wie seine Schultern nach unten sacken. Was ist heute im Kindergarten passiert? Erst benimmt sich Simone so komisch und dann stellt Piet solche Fragen. Schuld ist dieser Schwebezustand, in dem ich mich zur Zeit befinde. Er muss ein Ende haben. Luise ist fast ein Jahr tot und es ist Zeit, Entscheidungen zu treffen. Die Kinder brauchen eine Mutter und ich, ja auch ich, brauche eine Frau.
Santa trifft da keine Schuld. Im Gegenteil, ich muss ihm dankbar sein. Er hat durch seinen Auftritt der ganzen Situation nur noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt. Sonst wäre ich vielleicht nie aufgewacht. Klarheit ist das Kri- terium, welches jetzt gefragt ist. Kein Wunder, dass die Kinder vollkommen durcheinander sind und was wohl Simone jetzt von mir denkt.
„Piet!“ Sein kleinlautes „Ja“ ist kaum zu vernehmen. „Piet, ich will Claus nicht heiraten und er wird auch nicht bei uns wohnen“. Die Bestimmtheit, mit der ich das gesagt habe, lässt einen Stein von meinem Herzen fallen. An diesen Stein mache ich einen Gedanken fest, damit er auch nicht verloren geht: „Der Mann muss weg!“.
Jetzt aber erst einmal nach Hause. Als ich die Wohnungstür aufschließe, ist es der Duft von frisch gebackenem Kuchen, der uns entgegen weht. Im Flur ist noch alles beim Alten. Vielleicht ist ein wenig mehr aufgeräumt. Die Kinder sind vorausgerannt und stehen nun in der Küche. Auf dem Küchentisch steht unser Lieblingskuchen. Ein Blech Streuselkuchen, so als hätte Luise ihn gebacken. Jetzt muss ich mich erst einmal hinsetzen. Das übersteigt meine Kraft und mein Vorstellungsvermögen. Was passiert hier? Theresa rennt durch die Wohnung und ruft:“An- ta, Anta!“
Doch Claus scheint nicht da zu sein. Ich gehe noch einmal in den Flur. Der Mantel und die Stiefel sind weg. Piet schaut mich an. Was soll ich sagen? Das war es wohl! So wie er gekommen ist, so ist er auch wieder verschwunden.
Aber das kann ich den Kindern nicht sagen. Ich nehme beide in den Arm und erzähle ihnen, dass ihre Mama, dort in der anderen Welt mit dem Weihnachtmann befreundet ist und ihn uns geschickt hat, damit es uns gut geht.“ Dann koche ich Kakao und wir schneiden den Kuchen an. Vielleicht sollten wir für morgen Nachmittag Simone einladen?